Zum Innenstadtspaziergang am freien Sonntag gehörten immer Schlips und Kragen: In den 60-er Jahren waren die Griechen noch Gastarbeiter, heute sind sie Hertener Bürger

Von Vassilis Psaltis.

In diesen Tagen und Wochen wird in vielen Städten Deutschlands ein Jubiläum gefeiert: 50 Jahre griechische Gastarbeiter in Deutschland. Besonders bewegt wurde dieser Tage in der Ruhrgebietsstadt Herten zurückgeblickt: Einst drückten dort fast 500 griechische Beschäftigte einer großen Fleischwarenfabrik ihren Stempel auf. Diese Generation ist inzwischen größtenteils wieder nach Griechenland heimgekehrt oder sie lebt nicht mehr. Dafür haben ihre Nachkommen fast alle gesellschaftlichen Bereiche erschlossen.

König Konstantinos besucht 1973 (mit seiner Gattin Anna-Maria) die griechischen Arbeiter der Fleischwarenfabrik Schweisfurth in Herten

Wer heute durch Herten schlendert, wird nicht nur an Restaurants und Imbisstuben griechische Namen entdecken. Längst steht auch an Anwaltskanzleien, Arztpraxen und Ingenierbüros (und an den dazu gehörigen Haustüren von sehr individuell gestalteten Einfamilienhäusern) Kostas und Georgios, Ioanna und Evangelia. Egal ob selbstständig oder Lohnempfänger: Zwei Dinge verbinden fast alle Angehörigen der zweiten und dritten Generation: Sie sind gut integriert und pflegen gleichwohl das griechische Erbe. Sie pflegen (so gut es geht) die Muttersprache. Sie halten an den wichtigsten Bräuchen wie das Osterlamm fest. Sie organisieren erfolgreich griechische Konzerte und Lesungen, Theaterstücke und Tanzseminare. Und schließlich fühlt sich noch gut die Hälfte mit der Orthodoxie verbunden – von der Taufe bis zum Tod. Nur dass die letzte Ruhestätte heute nur noch selten in thrakischen oder makedonischen Heimatdörfern liegt sondern auf dem Hauptfriedhof Herten.

Zum Innenstadtspaziergang am freien Sonntag gehörten immer Schlips und Kragen: In den 60-er Jahren waren die Griechen noch Gastarbeiter, heute sind sie Hertener Bürger

Das hätten sich die „Urväter“ sicher nicht vorgestellt, als sie im Herbst 1960 nach einer dreitägigen Schiffs- und Zugodyssee ins Ruhrgebiet kamen – genügsam und opferbereit. Bis zu 70 Stunden wöchentlich schlachteten und zerlegten die Männer Rinder und Schweine. Die Frauen waren für das Verarbeiten und Verpacken zuständig. Fast alle blieben 20 Jahre lang, nicht wenige bis zur Rente. Denn Firmenchef Karl-Ludwig Schweisfurth zahlte früher als andere faire Löhne, respektierte die Arbeitssicherheit und schrieb auch das Soziale groß. Ausflüge und Besichtigungen, Sprachkurse und Sozialarbeiter, Dolmetscher und Wohnungshilfen ließen das Heimweh nicht Überhand nehmen. Die 70-er Jahre waren vor allem durch die Gründung einer griechischen Volksschule und eines Lyzeums geprägt, denn inzwischen waren die meisten längst zu Partnern und Kindern gekommen. Die Freizeit wurde im Umfeld der Gaststätten und immer öfter im Umfeld der Fußballmannschaft „Megas Alexandros“ verbracht.

Nicht immer torgefährlich, aber immer gut gelaunt: die griechische Fußballmannschaft „Megas Alexandros Herten“ in den 70-er Jahren

In den 80-ern wurde das Bild bunter: Mehrere griechische Lokale, Gaststätten und Schneidereien entstanden. Die Wohnungen wurden größer und komfortabler. Vor diesen standen jetzt regelmäßig Opel Ascona- oder Ford Taunus-Neuwagen, die in den vierwöchigen Werksferien über den längst legendären jugoslawischen Autoput nach Griechenland gesteuert werden. Die beiden großen griechischen Volksparteien trommelten in eigenen Verbänden auch in Herten lautstark für Wahlstimmen. Nicht selten gingen verhärtete Fronten quer durch die Fließbandreihen und die Familien. Mit dem EU-Beitritts Griechenlands und dem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung kehrte die Hälfte der Hertener Griechen in ihre Heimat zurück.

Jene, die blieben, festigten ihre Strukturen: Viele kauften sich Wohneigentum. Feiern mussten nun nicht mehr in Hinterzimmern von Gaststätten stattfinden. Vereine mieteten dafür repräsentative Hallen an. Wurden Gottesdienste anfangs beim Diakonischen Werk oder improvisiert in evangelischen und katholischern Kirchen gefeiert, bekam die Gemeinde 1995 das Gastrecht in einer Schlosskapelle, ehe 2002 mit Hilfe von 1,1 Millionen Spendengelder der Gemeindemitglieder mit dem Bau eines eigenen Gotteshauses begonnen wurde. Die Kirche „Heiliger Dimitrios“ gilt seit ihrer Nutzung im Jahre 2004 nicht nur unter Architekten als einer der schönsten orthodoxen Sakralbauten in Mitteleuropa (Internet: www.hl-dimtrios.de).

Die Hertener Griechen kauften das Gelände und bauten sie in Eigenregie: Die griechisch-orthodoxe Kirche „Heiliger Dimitrios“ in Herten

Was macht den Erfolg der griechischen Diaspora in Herten aus? Zeitzeugen wie Ioannis Georgiadis aus der Präfektur Kilkis sagen: „Wir haben uns nicht isoliert, wir waren tüchtig, wir waren freundlich, wir waren ehrlich und wir waren offen allen gegenüber.“ Vieles davon hält sich noch heute: Mischehen, doppelte Staatsbürgerschaften, aktive Mitgliedschaften in deutschen Vereinen und Verbänden und langjährige Freundschaften. Sie stellten die Weichen für eine tiefe Verankerung ebenso wie griechische Gemeinde- und Kulturveranstaltungen, bei denen deutsche Gäste nicht nur gern gesehen, sondern stets auch in deutscher Sprache begrüßt und informiert werden (siehe auch www.neo-ellas.de). Hertens Bürgermeister Dr. Ulrich Paetzel brachte es in zwei Sätzen auf den Punkt: „Die Griechen in unserer Stadt stehen für eine beispielhaft gelungene Integration. Sie haben das innere und äußere Bild unserer Stadt wesentlich geprägt.“ So stoßen die Hertener Griechen mit stolz geschwellter Brust anlässlich 50 bewegender Jahre mit reichlich griechischem Wein und deutschem Sekt an. Ein kleiner Wermutstropfen mischt sich jedoch in die Freude: Die persönlichen Bindungen zur alten Heimat werden von Generation zur Generation schwächer. Gerissen sind sie aber noch lange nicht.

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