„Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war;
er war nämlich sehr groß.“

Liebe orthodoxe Christen in Deutschland!

Heute ist Ostern. Wir alle haben uns festlich gekleidet, um zur Kirche zu kommen und die Auferstehung unseres Herrn zu feiern. Die Sehnsucht nach dem geistlichen Frühling erfüllt unsere Herzen. Unsere Seele dürstet wortwörtlich danach und sehnt sich, für kurze Zeit der Tragik unseres Alltags zu entkommen. Apokalyptische Bilder kommen durch die modernen Nachrichtenmedien in unsere Häuser. Eine Katastrophe biblischen Ausmaßes hat das Erdbeben der Stärke 9,0 auf der Richter-Skala über Japan gebracht. Noch sind die Folgen der Havarie im Atomkraftwerk von Fukushima nicht absehbar. In Libyen und in vielen anderen Gegenden unseres geplagten Planeten herrscht Krieg. Die Wirtschaftskrise ist weltweit und hat besonders auch Griechenland, die Heimat vieler orthodoxer Christen in Deutschland, erfasst. Ungerechtigkeit und Habsucht herrschen allenthalben. Das Gespenst der Armut und wechselseitiger Feindseligkeit, Aggression und Vernichtung ist noch immer gegenwärtig.

Lasst uns also eine Pause machen – um zu feiern … ? Ist das der Sinn der Einladung, die die Kirche an uns richtet, wenn sie ausruft: „Kommt, empfanget Licht!“ Und wie können wir nur feiern, wenn all das rings um uns herum geschieht? – werden empfindsame Gemüter fragen.

Doch die Kirche spricht ihre Einladung nicht ohne Vorankündigung aus. Der heutige Tag steht am Ende einer geistlichen Reise, die sich noch vor Beginn der Fastenzeit ankündigte und die mit der Vesper der Vergebung an der Schwelle der großen Fastenzeit, der heiligen Vierzig Tage, begann. Auch wir sind eingetreten in das Abenteuer dieser Reise. Wir haben uns zu Beginn mit Adam identifiziert, wie er vor dem verlorenen Paradies saß und weinte. Die Wanderung gipfelte in unserem Aufstieg nach Jerusalem und unserer Teilnahme an den allreinen Leiden des Herrn, am Skandal seiner Kreuzigung, am Mysterium seiner Grablegung und seines Abstiegs in den Hades. Wir haben die äußerste Erniedrigung erlebt, die Entwürdigung, die Ablehnung, den Verrat, die Ungerechtigkeit, die der sündelose Jesus, der Sohn der Jungfrau, erduldet hat.

Bei dieser Reise haben wir den Alltag nicht ausgeklammert, uns nicht aus der Welt zurückgezogen, die Augen unseres Herzens vor der Verzweiflung der Menschen, nicht verschlossen, sei es der Verzweiflung der Menschen in Japan, in Libyen, in Griechenland oder manchmal auch in diesem Land, in Deutschland. Ihre Hilferufe, ihre Trauer, ihre Wut wurden ein Teil unseres Gebetes; wir haben alles geteilt und zum Kreuz getragen. Und durch das Mysterium des Kreuzes haben wir verstanden, dass jeder Mensch in seinem eigenen Gethsemane mit Gott ringt. Aber was ist das Ziel seines Ringens? Dass er sich frei und mutig entscheidet, sein Kreuz zu tragen. Und dass er, wenn er es tut, es nicht unter Wehklagen, sondern in Liebe tut.

Diese Liebe ist es, die uns zur Auferstehung führt. Der Bericht von der Auferstehung nach dem Evangelisten Markus, der heute in der ganzen Welt zu hören ist, erwähnt, dass die das Myron tragenden Frauen, obwohl sie in dem Stein, der den Eingang zum Grab verschloss, einem wirklichen Hindernis gegenüberstanden, schließlich gerade diesen Stein vom Grab weggewälzt fanden. „Wer den Stein in sich selbst spaltet und darin das Leben der Liebe und der Aufopferung findet, fürchtet den Tod nicht“ sagt uns ein zeitgenössischer christlicher Philosoph.

Kreuz und Auferstehung Christi lassen nicht mehr zu, dass wir einfach um des Lebens willen leben. Sie offenbaren einen Sinn auch da, wo wir selbst keinen Sinn sehen, und lassen es nicht zu, dass die irdische Schwere uns überwältigt. Die Teilnahme am göttlichen Licht der Auferstehung kann in uns ein Feuer der Kreativität, der Entschlossenheit, des Opfermuts entzünden. Der Glaube gebiert uns neu, erhält uns wach und erinnert uns beständig an unsere Verantwortung. Und unsere Verantwortung ist, dass die Welt unsere in Liebe vollzogene freiwillige Selbstdarbringung aufscheinen lässt, ebenso wie den Glauben, dass die Dinge auch noch eine andere Dimension haben, dass der Mensch eine leuchtende Seite hat, dass jeder Mensch das Bild Gottes in sich birgt.

Christus ist auferstanden, liebe Brüder und Schwestern! Darum lohnt es sich zu leben und zu glauben, dass das Licht Christi auch noch die dunkelsten Winkel der Erde, auch die finstersten Gegebenheiten unserer Gesellschaft, ja auch die dunkelsten Orte unserer Seele erleuchten kann. „Die Auferstehung erfordert aber Mut“, sagt uns wiederum unser Philosoph und fügt hinzu: „In der Beherztheit lässt sich Gottes Gnade finden“.

Ich lade also, meine geliebten Brüder und Schwestern, einen jeden und eine jede von Euch ein, diese Gabe Gottes an uns mit Mut zu empfangen; „die Auferstehung Christi als ein Ereignis, das geschehen ist und das noch immer mit uns geschieht; dieses Geschenk, das unsere Einstellung gegenüber jeder Befindlichkeit dieser Welt, sogar gegenüber dem Tod, grundlegend verändert“.

Bonn, Ostern 2011

In väterlicher Liebe

+ Metropolit Augoustinos von Deutschland

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