Von Georgia Kostakopoulou

In Anwesenheit griechischer Journalisten, überwiegend aus der Region Makedonien und Thrakien, fand in Thessaloniki ein Seminar über die deutsch-griechischen Beziehungen in der Zeit der Krise statt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom „Zentrum für die Demokratie und Versöhnung in Südeuropa“ (Center for Democracy and Reconciliation in Southeast Europe) in Kooperation mit der Europäischen Akademie Berlin. Unter den Referenten befanden sich hochrangige deutsche Beamte und Experten, welche sich Fragen der griechischen Journalisten anhörten und über Themen der griechischen Wirtschaft und Europa sprachen. Im Rahmen dessen fand eine Diskussion über die Rolle der Europäischen Union sowie den Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland statt.

Zu den Referenten des Seminars zählte auch Professor Dr. Michael Tolksdorf der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Tolksdorf hielt einen ausführlichen Vortrag über die Betrachtung und die Lage der griechischen Finanzkrise in Europa und dem internationalen Weltmark. Die Elliniki Gnomi hat die Gelegenheit ergriffen und im Interview mit Tolksdorf über aktuelle Fragen der griechischen Wirtschaftskrise gesprochen.

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Professor Dr. Tolksdorf

Zur Person

1961–66:

Studium der Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin und der London School of   Economics and Political Science, England

1967–71:

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Referatsleiter für „Internationale Wettbewerbsbeziehungen“ im Bundeskartellamt

1970:

Promotion zum Dr. rer. pol. an der FU Berlin

Seit 1971:

Professor an der FHW / HWR Berlin

1985–89 und 1991–95:

Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin

1991–95:

Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft und Forschung des  Abgeordnetenhauses von Berlin

Seit 1994:

Visiting Professor, Duke University, Durham, N.C., US

Seit 2007:

Visiting Professor, Kobe University, Japan

2000 – 03 / 2010:

Erster Prorektor der HWR Berlin

2011:

Gastprofessur am Mt. Holyoke College, Massachusetts, USA

 

Die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland ist weiterhin am Tiefpunkt. Laut Finanzminister Wolfgang Schäuble werde Griechenland wohl auch nach 2014 ein  weiteres  Hilfspaket benötigen.

Griechenland erhielt nach dem zweiten Weltkrieg keine vergleichbaren Entwicklungsmöglichkeiten wie Deutschland, um eine starke Wirtschaftsstruktur aufzubauen. Um das Ziel eines gemeinsamen wirtschaftlich starken Europas zu schaffen, könnte ein „Marshallplan“ eine Lösung für Griechenland und die anderen südeuropäischen Mitgliedsstaaten sein, anstatt eine unwiderrufliche Austeritätspolitik zu verfolgen?

 

Ich kann Ihrer ersten These – Tiefpunkt einer Entwicklung – leider nicht widersprechen. Wir Ökonomen denken aber auch in Entwicklungen: Was die Zukunft Griechenlands in den nächsten Monaten und Jahren betrifft, weisen alle mir bekannten Prognosen (Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds, Deutscher Sachverständigenrat) auf einen schwachen und sich dann verstärkenden Wiederaufschwung Griechenlands hin. Wenn der griechische Wortstamm des Wortes „Krise“ eine entscheidende Wendung in einer schwierigen Situation bedeutet, dann befinden wir uns in der Eurozone tatsächlich in der Krise, aber aus meiner Sicht mit der realen, sichtbaren Chance, aus dieser herauszufinden.

Auch wenn der historische Vergleich Deutschland 1947 (Verkündung des „Marshall-Plans“) und Griechenland 2013 nicht ganz zutrifft, so ist der Grundgedanke richtig: Wie kann in einer Lage dramatischer Arbeitslosigkeit und Kreditknappheit Unternehmen geholfen werden, finanzielle Mittel zur Durchführung von Investitionen zu erhalten? Da die gegenwärtige Krise nicht nur eine Staatsschulden-, sondern insbesondere auch eine Krise von Banken und privaten Haushalten ist, leiden (nicht nur) griechische Unternehmen, daran, dass ihnen wichtige Kredite verweigert werden – teils von Banken, die ihrerseits keinen Spielraum haben. Daher ist mir der von Ihnen vorgetragene Gedanke eines „Marshall-Plans“ sehr sympathisch: Unternehmen erhalten verbilligte Kredite, um ihre Unternehmen voran zu bringen. Mit der Europäischen Investitionsbank (EIB), die der deutschen „Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW“ – der Verwalterin der immer noch eingesetzten Marshall-Plan-Mittel in Deutschland – ähnelt, könnte das erreicht werden. Dem Vernehmen nach wartet die EIB auf Projektanträge!

Damit ließe sich die aufgrund der extremen Staatsverschuldung notwendige Politik der Sparsamkeit und Rückgewinnung der griechischen Kreditwürdigkeit buchstäblich „umgehen“: Wenn der griechische Staat den Unternehmen derzeit nicht genug helfen kann, dann eben die EIB.

 

Oft wird Griechenland vorgeworfen, dass die Aufnahme in die Währungsunion mit geschönten Zahlen geschafft wurde. Andererseits ist bekannt, dass zur damaligen Zeit dieses Land nicht das einzige mit diesem Vorgehen war, um das gemeinsame Ziel erreichen zu können. Selbstverständlich sollte die gemeinsame Währung für alle EU-Partner eine starke Währung sein. Ist es Ihrer Meinung nach korrekt einen Großenteil der Schuld auf Griechenland abzuladen und glauben Sie, dass Europa sich mit den Schwierigkeiten der Finanzkrise solidarisch genug verhält?

 

Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe trotz mehrerer Versuche nicht verstanden, wie es die damalige griechische Regierung mit Beratung der US-Investmentbank Goldman-Sachs geschafft hatte, die Erfüllung der Konvergenzkriterien für den Eintritt in die Eurozone nachzuweisen. Das ist jetzt auch völlig egal: Griechenland ist Mitglied, und wir müssen jetzt sehen, wie die Probleme gelöst werden. Das heißt aber auch, Griechenland hat sich zu den Grundsätzen von Stabilität und No-Bail-Out (das heißt, jedes Land sorgt für seine eigenen Schulden und erwartet nicht, dass andere Länder diese zurückzahlen) bekannt.

Als Wirtschaftswissenschaftler prüfe ich nicht zuerst moralische Kategorien („Wer ist schuld?“), sondern versuche, Ursachen und Wirkungen („Wie konnte es dazu kommen? Was muss jetzt getan werden?“) zu ermitteln: Danach hat die Konstruktion der Eurozone als Stabilitätsgemeinschaft viel Vorab-Anerkennung durch die internationalen Kapitalmärkte erfahren, was sich in historisch niedrigen Zinsen und großer Kreditverfügbarkeit niedergeschlagen hatte. Das wurde von Staat, Unternehmen und privaten Haushalten  (auch!) in Griechenland genutzt, sich viele Wünsche weit jenseits der eigenen Leistungsfähigkeit zu erfüllen und leistungssteigernde Reformen zu vertagen. Banken aus vielen anderen Staaten der Eurozone, gerade auch deutsche Banken, hatten das damals unter Missachtung elementarer Risikovorsorge finanziert, weil es im eigenen Land eine viel zu geringe Kreditnachfrage gab. Als mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman im Herbst 2008 die Zinsen den Anlagerisiken angepasst wurden und damit für Griechenland dramatisch stiegen, und zudem die Investitionsmittel sehr knapp wurden, gerieten viele Länder, auch Griechenland, in die Überschuldung: Sie konnten aus eigener Kraft ihre Ausgaben nicht mehr finanzieren.

Waren die anderen Staaten solidarisch? Mit dem EFSF und jetzt dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM haben die Euroländer (einschließlich Griechenland) einen Rettungsfonds finanziert, der nach meiner Kenntnis der Wirtschaftsgeschichte einmalig ist und den Krisenländer ganz handfest geholfen hat und weiterhin hilft. Irland braucht diese Hilfe seit Dezember 2013 nicht mehr; Portugal will 2014 wieder auf eigenen Füßen stehen, und die griechische Regierung hat gleichfalls angekündigt, mit dem Erreichen eines ausgeglichenen Primärhaushalts den Schirm zu verlassen. Mit einem Teilschuldenerlass wurden im Fall Griechenlands 2012 erstmals auch private Gläubiger belastet.

 

Denken Sie, dass Griechenland die Ursachen erkannt hat, die das Land an den ökonomischen Abgrund geführt haben?

Setzt Griechenland nun die notwendigen Reformen um, damit die Wirtschaft aus der Rezession herausgeholt und wieder Stabilität herbeigeführt werden kann? Ist die Troika mit ihrer Austeritätspolitik auf dem richtigen Weg dazu?

 

Das griechische Parlament hat in diesen Tag einen Staatshaushalt beschlossen, der die vereinbarte Übereinstimmung von Einnahmen und Ausgaben erreicht. Damit bringt dieser Haushalt mit weiteren Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen keine positiven Wachstumsimpulse – das ist ein fast unablösbares Dilemma, denn hätte der griechische Staat wieder mit kreditfinanzierten Mehrausgaben begonnen, wäre erneut gefragt worden, ob man die Ursachen der Überschuldung richtig verstanden hätte. Dass die Troika Griechenland beim Wort nimmt und auf den zugesagten Reformen besteht und daraufhin weitere Milliardenrisiken eingeht, halte ich für richtig.

Reformen, die Sie ansprechen, müssen keine Reformen sein, die viel Geld kosten – ich denke da eine Strukturreform, die die Arbeitsmärkte flexibler macht, die den Umfang aller historisch gewachsenen und auf Schulden aufbauenden Sozialansprüche und Ansprüche eines eng mit den Parteien verbundenen Öffentlichen Dienstes kritisch überprüft, die eine überbordende Bürokratie, die die Wettbewerbsfähigkeit hemmt, reformiert, die Staatsbetriebe leistungsfähiger macht, die ernsthaft gegen die Korruption vorgeht, die auch die Besteuerung der Selbstständigen und Unternehmen anpackt, usw. Dieser Tage kann man in deutschen Zeitungen lesen, wie der griechische Staat ernsthaft seine Hausaufgaben macht – eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Hilfsbereitschaft der anderen Länder gestärkt wird.

 

Griechenland hat seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren.

Die Regierung versucht mit allen Mitteln Investoren ins Land zu holen. Dafür werden starke „Zweige“ der wenig vorhandenen griechischen Industrie, die bis heute Millionen – Einnahmen dem Land eingebracht hat und nun verschuldet ist, an ausländische Investoren verkauft. Ist das der richtige Weg die Wirtschaft zu stärken? An welchen Stellen könnte Ihrer Meinung nach die griechische Politik weitere Schritte einleiten, um das Land aus der Krise zu holen?

Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist in erster Linie preisliche Wettbewerbsfähigkeit – kann sich ein Land z.B. im Tourismus behaupten oder ist es aufgrund von Preiserhöhungen teurer oder aufgrund von versäumten Investitionen unattraktiver geworden als die Konkurrenten? Auch wenn die Einkommen gar nicht besonders gestiegen sind, könnte die Ertragskraft der in dieser Branche eingesetzten Menschen so weit gefallen sein, dass man sie nicht weiter beschäftigt kann. Hier eine schnelle Lösung in einem Umfeld von jahrelanger staatlicher und privater Verschuldung zu versprechen, ist nicht realistisch. Machbar erschiene mir, die Abwärtsspirale anzuhalten und umzukehren: Die gesunkenen Löhne würden eine Chance sein, wieder wettbewerbsfähiger zu werden, ergänzt durch – z.B. EIB finanzierte – Investitionen in die Attraktivität der Hotelanlagen in einer einmaligen Landschaft. Marketingzuschüsse aus Mittel der Europäischen Regionalförderung – Griechenland bleibt bis auf weiteres zweitgrößter Nettoempfänger von EU-Zuwendungen – können mithelfen, die Sommer- und Herbstsaison 2014 zu einem vollen Erfolg zu machen. Noch mehr als bisher sollte der touristische Bedarf (Lebensmittel, Hoteleinrichtungen, Kleidung) im Land selbst hergestellt werden. EU-Sozialfondsmittel sollten in größerem Umfang abgerufen werden, um die Arbeitslosigkeit durch weitere Qualifikationen zu mildern. IWF, EZB und EU-Kommission sollten das alles durch weitere Hilfszusagen absichern, damit der griechische Staat zahlungsfähig bleibt und die Banken vor dem Bankrott geschützt werden können.
Eines der „Zauberwörter“ weltweit lautet Entrepreneurship, also die Unterstützung von Unternehmensneugründungen in unterschiedlichen Bereichen von Produktion und Diensten. Hier hat die griechische Regierung schon einiges gemacht, um den Menschen freundlicher und unterstützender entgegen zu treten, die Ideen haben und diese verwirklichen wollen. Die OECD hat gerade in einem Bericht nachgewiesen, dass diese Start-ups zu Jobmotoren werden können. Alles in allem frage ich mich, warum die Menschen in Griechenland nicht denselben Erfolg haben können wie die in Irland, die Wachstum erzielen, Arbeitslosigkeit abbauen und den EWS-Rettungsschirm verlassen?

Ihre Frage in Bezug auf die Privatisierung griechischer Unternehmen erinnert mich lebhaft an die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung, als die sog. Treuhandanstalt sozialistische und wenig wettbewerbsfähige Unternehmen privatisierte. Warum? Es sollte frisches Kapital durch in- und ausländische Investoren mobilisiert werden, es sollten Weltmarkterfahrungen und aktuelles Management Know-how eingebracht werden. Dabei gab es erhebliche Probleme, aber letztlich will praktisch keiner zurück zu den alten Zeiten. Zudem: Nur leistungsfähige Unternehmen zahlen Steuern, brauchen keine Subventionen mehr und beschäftigen Menschen mit guten Einkommen.

Aus Ihrer Frage entnehme ich auch eine gewisse Unsicherheit vor einem größeren ausländischen Engagement. Ich erinnere aber daran, dass sich die größten deutschen Unternehmen – die DAX 30 – zu etwa 60 % in ausländischer Hand befinden. Die Verbindung mit den globalen Produktions- und Finanzmärkten hat den Unternehmen, ihren Investitions- und Exportanstrengungen nicht geschadet. Unternehmen lassen sich regulieren; da gibt es Erfahrungen, die Griechenland nutzen kann.

 

Glauben Sie, dass die Währungsunion im vereinten Europa weiterhin eine gemeinsame Zukunft hat und wie wird dieses Europa aussehen?

 

Ich glaube an eine europäische Zukunft und auch unseren gemeinschaftlichen Währungsraum. Glauben kann man nicht beweisen, aber man kann etwas tun, dass uns keine Re – Nationalisierung in die engen Grenzen abgeschotteter Kleinstaaten zurückführt. Aber unabhängig davon: Die globalen Entwicklungen gehen weiter, ob wir Europäer das wollen oder nicht. Vielleicht kann die Europäische Union in ihrer Gesamtheit die Entwicklungen auch im Hinblick auf die uns verbindenden Werte beeinflussen – ich glaube, dass da viel möglich ist. Was ich sicher weiß: Wenn wir uns wieder in viele kleine Einzelstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts atomisieren, dann entscheiden die anderen für uns. Schaue ich in die Geschichte zurück, wollten die Griechen vor drei Jahrtausenden das auch nicht.

 

 

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